Wilma Ellersiek

Ein Leben für den Rhythmus

Wilma Ellersiek

Kindheit und Schulzeit

In einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein, direkt an der Ostsee­küste erblickte Wilma Eller­siek am 15. Juni 1921 das Licht der Welt. Mit dem Rhythmus der Wellen, dem Rauschen des Windes mit Hunden, Katzen, Hühnern, Enten und einem Pferd als Spiel­kamera­den erlebte sie eine natur­verbun­dene Kindheit. Ihre Freunde waren, wie sie selbst sagt, die Blumen, die Bäume, der Sand und die Sterne. Aber besonders das Phänomen des Rhythmus, das am Meer in viel­schich­tiger Weise erleb­bar ist, wird Wilma Ellersiek ihr ganzes Leben lang begleiten. Rück­blickend empfindet sie ihre Kind­heit als ein fast himm­lisches Leben im Rhythmus der Natur. Im Elternhaus bekommt sie Anre­gungen im musi­kalisch-künst­lerischen und sprachlich-literarischen Bereich. Einerseits die Natur, andererseits die Kultur – eine ideale, wundervolle und aufbauende Atmosphäre zur Menschwerdung.

Im Jahr 1927 zieht die Familie Ellersiek nach Westfalen. Wiederum hat die kleine Wilma das Glück, neben einem Bauernhof zu wohnen, die geliebten Tiere bleiben also weiter­hin ihre Kameraden. Neu ist für sie der Eindruck der im Wind wogenden Korn­felder, eine andere Art von rhyth­mischer Wellen­bewegung. Jetzt kommen auch erste Kinder­begeg­nungen im Kinder­garten und bald schon in der Schule hinzu. Die gemein­same Zeit ist erfüllt vom Singen, Tanzen und Deklamieren, ja, die ganze Kinder- und Jugendzeit empfindet sie in der Rückschau als eine von Musik und Rhythmus durchdrungene Zeit – eine gute Basis für ihren späteren Werdegang.

Studium und Kriegswirren

Wilma Ellersiek beendet die Schule mit dem Abitur und beginnt im Jahr 1941 in Leipzig zu studieren. Sie belegt zunächst die Fächer Schulmusik, Germanistik und Kunst­geschichte. Durch eine schwere Erkrankung muss sie das Studium unter­brechen, hinzu kommen Kriegs­wirren, die im Jahr 1945 die Familie dazu zwingen, aus dem Osten zu fliehen. In Essen nimmt Wilma Ellersiek ihr Studium an der Folkwang­schule wieder auf, allerdings wechselt sie den Studien­gang. Das neue Fach ist die rhythmisch-musika­lische Erziehung. Dieses Studium setzt sie in Stuttgart an der Staatlichen Hochschule für Musik und Dar­stellende Kunst fort. Dort bekommt sie Unterricht bei Elfriede Feudel, der Meister­schülerin des Begrün­ders der Rhythmik, Emile Jaques-Dalcroze. Wilma Ellersiek belegt in Stuttgart außer der Rhythmik auch den Studien­gang Sprach­erziehung und schließt beide Fächer 1957 mit dem Staatsexamen ab.

Akademische Laufbahn, erste Gestenspiele

Die Rhythmik ist ihr jetzt zum Lebens­inhalt geworden. Sie bleibt als Assistentin an der Stuttgarter Musik­hoch­schule in den Abteilungen „Rhythmik“, „Schauspiel“ und „Gesprochenes Wort“. Nach der Assistenz­zeit wird ihr eine Dozenten­stelle angeboten, später wird sie Professorin. Neben ihrer Arbeit an der Hochschule führt sie Regie an Opern- und Schaupiel­häusern, unter anderem in Stuttgart, Wien und London. Wieder ist es eine schwere Erkrankung, die einen entschei­denden beruflichen Umbruch einleitet, und wieder ist es der Rhythmus, der sie fasziniert. Wilma Ellersiek wendet sich nun der Erfor­schung des Rhythmus in seiner Wirkung in der Bewegung, in der Sprache und in der Musik speziell beim kleinen Kind zu. Ihre Arbeit an diesem Thema erregt Aufsehen, 1968 erhält sie vom Land Baden-Württemberg einen ein­schlä­gigen Forschungs­auftrag. Aus diesem Impuls heraus entstehen die ersten „Gesten­spiele“ für das Kind im Vorschul­alter. Aus diesen kleinen Gesten­spielen entwickelt sie Schritt für Schritt, mit beneidens­werter Intuition, aber auch enormer Akribie und Sorgfalt große, zusammen­hängende Spiel­einheiten in gereimter Sprache, durch­woben vom Rhythmus und der Musik.

Wilma Ellersiek mit zwei FreundinnenSie nennt ihre Kurse zunächst „Eltern­schule“, denn ihre Idee ist es, die Kinder zusam­men mit den Müttern oder den Vätern zu unter­richten. Die Stutt­garter Musik­hochschule richtet innerhalb des Faches Rhythmik für Wilma Ellersiek in den späten sechziger Jahren den Teil­bereich „Rhythmik in der Vorschul­zeit“ ein. In diese Zeit fällt auch die Begeg­nung mit der „Urmutter“ der Waldorf­kinder­gärten, Klara Hatter­mann, mit der sie sich lebenslang in inniger Freundschaft verbunden fühlt. Klara Hatter­mann nimmt die neuen Spiele mit Interesse wahr, sie begleitet Wilma Ellersiek durch mancherlei Schwierig­keiten und ermutigt sie immer wieder weiter­zumachen, sie trägt die Spiele in Kursen in die Welt hinaus – wie auch einige von Wilma Ellersieks Stuttgarter Studentinnen.

Ruhestand und Entstehung vieler neuer Spiele

Nach 25 Jahren intensiver Lehr­tätig­keit verlässt sie 1983 die Hochschule und geht in den Ruhe­stand. Der Lehrpflicht enthoben, wird Wilma Ellersiek besonders kreativ. Viele Spiele entstehen jetzt, darunter all die Liebkoschen und die vielen Wiegenlieder. In dieser Zeit bildet sich auch in Hannover um Klara Hattermann ein Interessen­kreis, der sich auch nach Hattermanns Tod im September 2003 intensiv um all die Spiele von Wilma Ellersiek bemüht und für die möglichst urheber­getreue Verbreitung sorgt. Die Spiele von Wilma Ellersiek sind der Natur abge­lauscht, in phäno­meno­logisch stimmiger Weise gelingt es ihr, im künst­lerisch gestal­teten Rhythmus der Sprache und den ent­sprechend passen­den Bewegungen, den Wind, die Blumen, die Tiere, die Sonne, den Mond und die Sterne in kleine musika­lische Geschich­ten dem Kind nahe zu bringen. Auf diese Weise schenkt sie den Kindern heute von ihrer eigenen natur­verbun­denen Kindheit etwas, durch die in den Spielen schwingenden heil­samen, natürlichen Rhythmen.

Selbst gewollt

Herr,
ich lausche in der Stille,
dass sich kundtut mir Dein Wille!
Wenn ich auch jetzt noch nicht
begreifen kann,
ich fühle es,
Du siehst mich wissend an,
wartend, ob ich gehorsam bin.
Nur Du allein
kennst meines Lebens Sinn. -
Schon lang' bevor das Erdenlicht
ich hab gesehen,
war ich entschlossen
diesen Lebensweg zu gehen.
Mit allen Hierarchien
und dem Christus
habe ich gewirkt daran.
O, Herr, lass finden mich die Kraft,
dass ich den selbstgewollten Weg
auch gehen kann.

Wilma Ellersiek

Was nach dem Leben bleibt

Am 27. Oktober 2007 ging Wilma Ellersiek in den frühen Morgen­stunden über die Schwelle des Todes. Trotz ihrer schwachen Kon­stitu­tion hat sie ein langes und reiches Leben gelebt, immer wieder gegen schwere Krank­heiten kämpfend. Dennoch war ihr in der zweiten Hälfte ihres Lebens nichts wich­tiger als das Wohl des kleinen Kindes. Die Zartheit des Kind­wesens und die Angriffe der materia­listischen Welt auf die Kinder­seelen haben Wilma Ellersiek veranlasst, all die schönen Spiele zu ent­wickeln. Diese Spiele sind eben nicht nur Spiele im eigent­lichen Sinn, diese Spiele von Wilma Ellersiek sind Kunstwerke, durch­pulst vom Rhythmus der Sprache und der Musik und der Liebe zum Kind.